4. Januar 2009

Operation Gegossenes Blei

Verhältnismäßigkeiten

Ingo Way
von Ingo Way, Journalist
04.01.2009 - 00.52 Uhr

Eigentlich wollte ich ein dezidiert unpolitisches Reisetagebuch schreiben, doch die Realität des Krieges holt einen dann doch wieder ein. Gestern begann Israel mit dem zweiten Teil der Operation "Cast Lead", mit dem Einsatz von Bodentruppen gegen Einrichtungen der Hamas im Gazastreifen. Die Armee hat mehrere Tausend Reservisten eingezogen, darunter Leute, die ich kenne, Freunde von Freunden. Doch eigentlich sollte das für die Beurteilung des Konflikts keine Rolle spielen. Ich verstehe die Leute nicht, die darüber jammern, wie unübersichtlich die Lage sei und wie schwer es sei, sich ein Urteil zu bilden. So schwer ist es nämlich nicht, sich ein Urteil zu bilden, wenn man denn wirklich bereit ist, sich um ein Verständnis der Situation zu bemühen. Auch von einem rein objektiven Standpunkt aus, sollte es den geben, müßte es eigentlich vollkommen klar sein, wer in diesem Krieg der Aggressor ist.

Denn der gesunde Menschenverstand müßte einem sagen: Wenn die Hamas nicht in den letzten acht Jahren Tag für Tag Raketen auf Israel abgefeuert hätte, wenn sie nicht ständig neue Waffen zu eben diesem Zweck aus dem Iran, aus Rußland und aus China in den Gazastreifen geschmuggelt hätte, wenn sie die Reichweite ihrer Raketen nicht Jahr um Jahr weiterentwickelt hätte, so daß sie heute ein Gebiet bedroht, in dem eine Million Israelis leben, dann hätte Israel auch keinen Grund, sich zur Wehr zu setzen.

Daher habe ich auch kein Verständnis für manche meiner Journalistenkollegen, die objektive Berichterstattung mit moralischer Neutralität verwechseln und sorgsam bemüht sind, für keine Seite Partei zu ergreifen. (Meist kommt unterm Strich dann doch heraus, daß die Israelis die Bösen sind.) Haben nicht beide Seiten den Waffenstillstand verletzt? Sind die Israelis nicht viel stärker? Was ist mit der Besatzung? Ist Israels Reaktion nicht unverhältnismäßig?

Den seit Juni herrschenden "Waffenstillstand", den die Hamas keinen Tag lang eingehalten hat, hat die israelische Seite mit einer Engelsgeduld ausgesessen, die kein anderes Land der Erde in einer vergleichbaren Situation an den Tag gelegt hätte. Wenn die eine Seite - die Hamas - den Waffenstillstand bricht, könnte man der anderen nicht vorwerfen, wenn sie sich ebenfalls nicht mehr daran gebunden fühlte. Und dennoch hat Israel während des Waffenstillstands, der am 19. Dezember auslief, stillgehalten.

Und wogegen kämpft die Hamas eigentlich? Israel hat sich 2005 vollständig aus dem Gazastreifen zurückgezogen, hat sämtliche israelischen Siedler evakuiert. Es gibt keine israelische Besatzung im Gazastreifen mehr. An der miserablen Situation der Palästinenser in Gaza sind die Israelis nicht schuld - wohl aber die Hamas, die die immensen internationalen Hilfsgelder, die sie erhält, nicht etwa für den Ausbau der Infrastruktur, für das Bildungssystem oder die medizinische Versorgung der Bevölkerung verwendet, sondern ausschließlich für Waffen, Waffen und noch mehr Waffen. Und dennoch genießt die Hamas irrsinnigerweise weiterhin Rückhalt in der Bevölkerung. Auch eine Folge der - selbstverursachten - Bildungsmisere in den Palästinensergebieten. Wogegen also kämpft die Hamas? Was ist ihr Anliegen? Was sind ihre Ziele? Was wirft sie Israel vor? Liegt der Gedanke wirklich so fern, daß es ihr ausschließlich um das Töten von Israelis, von Juden geht, ganz unabhängig von deren Verhalten?

Und immer wieder hört man den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit. Sind doch durch die Operation "Cast Lead" mehr Palästinenser gestorben als Israelis durch die Raketen der Hamas. In einem brillanten Artikel für die Jerusalem Post (31. Dezember 2008) hat der frühere israelische UN-Botschafter Dore Gold dieses Argument zerpflückt. Verhältnismäßigkeit bedeute im Internationalen Recht, schreibt Gold, nämlich keineswegs, daß die angegriffene Seite nur mit den gleichen Waffen zurückschlagen darf. "Nach Internationalem Recht ist Israel nicht verpflichtet, exakt die gleiche Waffenkraft einzusetzen, die der Gegner verwendet. Israel ist nicht verpflichtet, Kassamraketen zu bauen und sie in den Gazastreifen zu schießen." Der Angegriffene hat das Recht, die Aggression zu beenden - mit den Mitteln, die dazu notwendig sind. Zivilisten dürfen nicht absichtlich ins Visier genommen werden. Aber genau das, betont Gold, hat Israel auch nicht getan. Es hat Einrichtungen der Hamas - Hauptquartiere, militärische Trainingslager, Tunnel für den Waffenschmuggel - bombardiert und eben nicht gezielt Wohngebiete.

Wenn die Hamas derartige Einrichtungen absichtlich in Wohngebiete verlegt, um die dort lebenden Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu mißbrauchen, wenn sich Hamas-Führer feige in Krankenhäusern verstecken, weil sie auf die Skrupel der Israelis vertrauen, die ihnen selbst fremd sind - dann sind sie es, die sich völkerrechtswidrig verhalten, denn laut Genfer Konvention, Art. 58 a-c, sind die Konfliktparteien verpflichtet, Zivilpersonen im Kriegsfall von militärischen Einrichtungen fernzuhalten, solche Einrichtungen gar nicht erst in der Nähe von dicht bevölkerten Wohngebieten zu errichten und auch sonst alle erdenklichen Maßnahmen zu unternehmen, um die Zivilbevölkerung zu schützen. All dies hat die Hamas nicht nur nicht getan, sondern von all dem das völlige Gegenteil. Sie versteckt sich in Wohngebieten und benutzt Kinder als menschliche Schutzschilde.

Und so erklären sich dann auch die unterschiedlichen Todeszahlen auf beiden Seiten. Während Israel alles tut, um seine Bürger zu schützen, indem es Bunker baut und Frühwarnsysteme errichtet, ist der Hamas daran gelegen, möglichst viele Märtyrer zu produzieren und der weltweiten Medienöffentlichkeit Bilder getöteter Kinder zu präsentieren. Was treibt den um, der diesen Unterschied Israel zum Vorwurf macht?

Der Philosoph Michael Walzer schrieb 2006: "Wenn palästinensische Terroristen Raketen aus Wohngebieten abfeuern, dann sind sie es, die für getötete Zivilisten durch israelische Gegenschläge verantwortlich sind - und niemand sonst."

An dieser Stelle gehe ich mittlerweile direkt zur Offensive über. Wenn mir jemand entgegenhält, daß man die Unverhältnismäßigkeit doch schon daran erkenne, daß viel mehr Palästinenser als Israelis getötet wurden, begegne ich ihm mit der Frage, wie viele tote Juden er sich denn wünsche, damit Verhältnismäßigkeit hergestellt sei.


http://www.debatte.welt.de/weblogs/2576/dieses+jahr+in+jerusalem/105608/verhaeltnismaessigkeiten

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