Esther Schapira: Made in Pallywood
Auf diesen Moment hat er sechs Jahre lang gewartet. Sechs Jahre, in denen er zunehmend wirkte, wie einer jener Eiferer, um die es immer einsamer wird, weil selbst Wohlmeinende anfangen zu zweifeln und freundlich milde zur Aufgabe raten. Für Philippe Karsenty aber wäre das Verrat gewesen. Und so sammelte er weltweit Hinweise, Indizien und Geld, um seinen Kampf um die Wahrheit finanzieren zu können. Und nun, an diesem 21. Mai 2008, ist es endlich so weit. Philippe Karsenty ist am Ziel. Ein französisches Gericht bestätigt ihm in zweiter Instanz, dass seine Zweifel berechtigt sind, dass er fortan straffrei behaupten kann, dass France 2 und sein Korrespondent Charles Enderlin eine Lüge verbreitet haben, als sie behaupteten, der 12-jährige Mohammed Al Durah sei von israelischen Soldaten erschossen worden. Karsenty ist vielmehr überzeugt, dass es sich um eine perfekte Medienfälschung der Palästinenser handelte, der France 2 zunächst aufgesessen sei und die sie dann wider besseres Wissen weiterhin verbreitet hätten.
Fälschung oder nicht, darauf hat auch das Pariser Gericht keine Antwort. Die Wahrheit im Fall Mohammed Al Durah kennen wir immer noch nicht. Und doch hat das Urteil schon jetzt Mediengeschichte geschrieben. Karsenty hat erreicht, dass Zweifel an der Märtyrergeschichte nicht mehr als israelische Propaganda abgetan werden können. Vielmehr ist nun amtlich, was die aktuelle Nahostberichterstattung seit Jahren prägt: die Leichtgläubigkeit westlicher Medien, die Willfährigkeit, mit der sie sich für die palästinensische Propaganda einspannen lassen. Westliche Journalisten als Bildbeschaffer für die Bilder im Kopf. Und weil sie so gut passen und bestätigen, was die Zuschauer und Leser ohnehin schon zu wissen glauben, bleiben selbst plumpe Fälschungen unentdeckt. Und selbst wenn sie klar widerlegt werden, halten sie sich hartnäckig im öffentlichen Bewusstsein. So findet Google über 43.000 Einträge unter dem Stichwort „Jenin Massaker“, von denen sich nur eine Minderheit mit der Korrektur der Propagandalüge beschäftigt. Zwar hat mittlerweile selbst die palästinensische Seite eingeräumt, dass im April 2002 nicht, wie anfänglich behauptet, über 500 Palästinenser getötet wurden, sondern 52 (darunter 14 Zivilisten). Auch für die angeblichen Massengräber fand weder die Untersuchungskommission der UNO noch Amnesty International oder Human Rights Watch irgendeinen Beleg – am Medienmythos des „Massakers von Jenin“ konnte die Wahrheit jedoch wenig ändern.
„Worte können Bilder nicht aufwiegen“, sagte Olivier Rapovitch, der damalige Sprecher der israelischen Armee und begründete so die wenig kooperative Haltung Israels bei der journalistischen Recherche nach der Wahrheit im Fall Al Durah. Das Bild sei ohnehin stärker, und die Leute wollten nicht wissen, wie es wirklich war. Die tägliche Berichterstattung scheint ihm recht zu geben. Das war so im Fall Jenin und im Juni 2006, als Israel angeblich mit einem Raketenbeschuss vom Meer aus eine siebenköpfige Familie am Strand von Gasa ausgelöscht hatte. Auch hier waren die späteren Beweise eindeutig: Die Familie starb durch Sprengstoff der Hamas. An der Medienwirkung änderte dies wenig.
Die Liste ließe sich beliebig erweitern etwa um Beispiele aus dem Libanon-Krieg im Juli 2006 oder von der Blockade Gasas Anfang diesen Jahres, als die Hamas-Regierung durch die ausbleibende Stromzufuhr aus Israel angeblich bei Kerzenschein tagen musste und die Brutkästen für Frühgeburten nicht mehr laufen konnten. Tatsächlich sperrten Vorhänge das Sonnenlicht aus, um das dramatische Foto im Kerzenschein um die Welt schicken zu können. Auf dem Bild aus dem Krankenhaus waren im Hintergrund angeschaltete Monitore zu erkennen. Die Liste der Propagandaschlachten im Medienkrieg ist also lang. Der Fall Mohammed Al Durah aber ist gleichwohl ein besonderer. Das Bild des hilflosen Jungen und seines Vaters hat sich eingebrannt als Ikone der Intifada. Das Urteil in Paris könnte jetzt dazu beitragen, dass dieses Bild zumindest im Westen fortan zum Symbol für „Pallywood“ wird, für die Inszenierung von Propagandabildern, für die Manipulation der Medien. Dafür aber müsste das Rätsel gelöst werden, was wirklich an diesem 30. September 2000 passierte.
Acht Jahre später gibt es zumindest mehr Fragen und Zweifel als damals. Wie viel Filmmaterial gibt es tatsächlich? Was ist darauf zu sehen? Wurde Mohammed Al Durah überhaupt erschossen? Charles Enderlin, der Korrespondent, der die Szene um die Welt geschickt hatte, war selbst nicht vor Ort. Er verließ sich auf die Schilderung seines Kameramannes Talal Abu Rahme, als der textete: „Mohammed ist tot, sein Vater schwer verletzt.“ Doch schon das damals veröffentlichte Material lieferte dafür keine Beweise. Kein Schuss war zu sehen, kein Blut.
France 2 hat stets behauptet, das gesamte Material der Szene veröffentlicht zu haben. Das ist falsch. Mittlerweile gibt es mindestens weitere zehn Sekunden, die Vater und Sohn zeigen. Das vermeintlich letzte Bild, zu dem Charles Enderlin getextet hatte „Mohammed ist tot“, ist nicht das letzte gedrehte Bild. Die Einstellung wurde abgeschnitten, bevor zu sehen ist, wie der angeblich tote Mohammed Al Durah den Kopf hebt und in die Kamera schaut. Die zusätzlichen Sekunden waren erstmals am 14. November 2007 im Gerichtssaal in Paris zu sehen. Ein weiteres Mosaiksteinchen, aus dem sich vielleicht irgendwann das ganze Bild zusammensetzen wird. Es ist ein langer Weg bis zur Wahrheit, und es gehört zu den Besonderheiten dieses Falles, dass er überhaupt zum Fall wurde angesichts der vermeintlich klaren Beweislage.
„Die Araber hatten ja auch gar keinen Grund, auf ihn zu schießen. Er ist ja Araber wie sie“, sagte Abed El-Razq El-Masry, der Pathologe in Gasa. Er sah demzufolge auch keine Notwendigkeit für eine Obduktion. „Wenn alle der Meinung sind, dass der Betreffende der Mörder ist, dann werden natürlich keine Untersuchungen durchgeführt“, sagte General Saib Ajez, der Polizeichef von Gasa und sicherte keine Spuren. Dabei hätte zum Beispiel die Munition Aufschluss darüber geben können, wer die angeblichen Maschinengewehrsalven abgefeuert hat. Stammten sie aus palästinensischen Kalaschnikows oder israelischen M16-Gewehren? Auch diese Frage hat damals niemanden interessiert. Der Weltöffentlichkeit ging es wie dem Pathologen und dem Polizeichef. Diejenigen, die es dennoch genau wissen wollten, die hartnäckig nachfragten, gerieten schnell in den Verdacht, einer politischen Agenda zu folgen. France 2 drohte jedem, der Zweifel an der Echtheit der Bilder hegte, mit einem Anwalt. Doch alle Versuche, Nachfragen im Keim zu ersticken, schlugen fehl. Dafür hatte die Szene längst zu große Symbolkraft erreicht. Für die einen war sie eine Schlüsselszene des Medienkrieges. Für die anderen war sie der sichtbare Beweis für die mörderische Besatzungspolitik Israels und für die Legitimität des Kampfes zur Vernichtung des „zionistischen Gebildes“.
In unzähligen Videoclips im palästinensischen Fernsehen wurde diese Botschaft verbreitet. Zu sehen war die von Talal Abu Rahme gedrehte Szene – ein israelischer Soldat, der schießt, dazwischen montiert. Auch wenn der Soldat zu einem völlig anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort gedreht worden war – der Clip hatte dadurch jene Eindeutigkeit, die dem Originalmaterial fehlte. In der arabischen Welt aber brauchte es ohnehin keine weiteren Beweise. Zahllose Straßen und Plätze wurden nach Mohammed Al Durah benannt. Filme, Lieder, Gedichte priesen den Märtyrer, und Briefmarken erschienen mit seinem Konterfei, sogar Toilettenpapier. Seine Beerdigung wurde weltweit gezeigt. Wütende Demonstranten forderten die Zerstörung Israels. Im Fernsehen und Internet, in Freitagspredigten und auf Flugblättern wurden Muslime aufgerufen, Mohammed Al Durah zu rächen. Ein Aufruf, der mit der bestialischen Enthauptung des amerikanischen Journalisten Daniel Pearl durch Islamisten grausige Realität wurde. Im Video seiner Hinrichtung wird das „Todesurteil“ als Rache für die „Ermordung“ Mohammed Al Durahs gerechtfertigt.
Bis heute werden vor allem Kinder und Jugendliche in Palästina aufgerufen, den „Märtyrer Mohammed Al Durah“ zu rächen und ihm nachzueifern. Jungen wie Mohammed Besharat. 15 Jahre ist er alt und lebt in Tamun im Westjordanland, als er die Szene das erste Mal sieht. Ein knappes Jahr später steigt er mit einer Bombe in einen Bus in Israel, um sich als Selbstmordattentäter in die Luft zu sprengen. Der Busfahrer aber kann ihn davon abhalten, den Sprengsatz zu zünden und rettet so ihm und den Passagieren das Leben. Gefragt, was ihn als 16-Jährigen motiviert habe, antwortet er noch vier Jahre später: „Schauen Sie sich doch Mohammed Al Durah an. Ist das zu fassen? Ein kleiner Junge von sieben Jahren wird ermordet, und keiner tut etwas. Ich wollte etwas tun, mein Land verteidigen, mich selbst verteidigen. Eines Tages werde ich selbst das Opfer dieser Leute sein.“ Wer „diese Leute“ sind, wessen Opfer Mohammed Al Durah wurde, das stand und steht für Mohammed Besharat außer Frage. Er kennt nur die palästinensische Version der Geschichte.
Mit dieser „Wahrheit“ im Gepäck reist auch Jamal Al Durah, Mohammeds Vater, seit damals durch die Welt – als Botschafter der Intifada. Längst ist er selbst ein Prominenter in der arabischen Welt. Er fährt Erster Klasse und wird behandelt wie ein Staatsgast. Wieder und wieder erzählt er, was sich an diesem 30. September 2000 an der Kreuzung im Gasastreifen abgespielt haben soll. Auch bei der großen UNO-Konferenz gegen Rassismus in Durban schildert er die Ermordung seines Sohnes durch israelische Soldaten. Ein international gern gesehener Gast ist auch Talal Abu Rahme, der eindrucksvoll erzählt, wie er unter Lebensgefahr die einzigartigen Bilder gedreht habe. Er wurde dafür in Perpignan ausgezeichnet, als Kameramann des Jahres 2001 beim Festival des Photojournalismus.
Aber was hat Talal Abu Rahme wirklich gedreht und wie viel? Sieben Jahre lang hatte France 2 von 27 Minuten gesprochen, die sich auf der Drehkassette befänden. Als diese auf Anordnung des Gerichts in Paris endlich vorgeführt werden mussten, erklärte der Sender dem erstaunten Publikum, man habe sich geirrt. Es gäbe nur 18 Minuten. Und selbst die waren auf den ersten Blick so unspektakulär, dass es völlig unklar blieb, warum sie all die Jahre unter Verschluss gehalten worden waren. Zu sehen waren Jugendliche, die Steine und Brandsätze auf den israelischen Militärposten warfen, ohne jede erkennbare Reaktion der israelischen Soldaten. Zu sehen waren „For Camera Only“-Szenen, die aber nur für den geübten Beobachter als solche zu erkennen sind. „For Camera Only“ nennen die israelischen Soldaten es, wenn Demonstranten als Verletzte posieren und von Krankenwagen abgeholt werden. Zu sehen war schließlich die bekannte Sequenz mit Vater und Sohn. Zu sehen waren aber auch erstmals jene zehn Sekunden, in denen der angeblich tote Junge den Kopf hebt und in die Kamera schaut. Alles, was gedreht worden ist, sei veröffentlicht worden, hatte Charles Enderlin zunächst behauptet. Später fügte er hinzu, die Szene sei lediglich um jene Einstellung gekürzt worden, in der der schreckliche Todeskampf des Kindes gezeigt würde. Doch von eben diesem Todeskampf ist auf den jetzt bekannten Bildern nichts zu sehen. Warum nicht? Ist das nunmehr angeblich komplett veröffentlichte Rohmaterial eben doch nicht vollständig. Gibt es diese Bilder überhaupt?
Immer länger wird die Liste der Fragen und Widersprüche. Immerhin steht nun eindeutig fest, dass die am weitesten verbreitete Version die unwahrscheinlichste ist. Dies war bereits das Ergebnis unserer ARD-Dokumentation „Drei Kugeln und ein totes Kind – Wer erschoss Mohammed al Durah?“ im Jahr 2002. Schon damals war klar, dass es so nicht gewesen sein konnte. Unklar blieb, wie es sich tatsächlich verhalten hat. Auf diese Frage suchte Philippe Karsenty, ausgelöst durch unseren Film, eine Antwort. Das Ergebnis dieser Suche darf er verbreiten, ohne sich der üblen Nachrede schuldig zu machen. Tatsächlich klingt seine Antwort plausibel. Ob sie stimmt, hat der Prozess in Paris nicht klären können. Für die politische Wahrheitsfindung ist er ohnehin ohne Belang. Für beide Seiten stand und steht fest, dass ein Gerichtsurteil an ihrem eigenen Urteil nichts ändert.
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