16. September 2009

Die gefährlichste Stunde der deutschen Soldaten

Von Clemens Wergin 15. September 2009

Die Soldaten des Fallschirmjägerbatallions 261 sind empört. Die dritte Kompanie ist angetreten zur Aussprache mit Generalinspekteur Schneiderhan und drei mitgereisten Journalisten. Auf die Frage, was sie von der deutschen Debatte über den Luftangriff auf zwei Tanklastwagen halten, bei dem Dutzende Menschen ums Leben kamen, sprudelt es aus ihnen heraus: „Mir ist vollständig unverständlich, wie sich Politiker schon wenige Stunden nach dem Vorfall und ohne genau Kenntnis der Fakten zu Wort melden können“, sagt ein Zugführer.

Bei den Männern hier in Kundus herrscht der Eindruck, da wollten einige im Wahlkampf schnell punkten – auf dem Rücken der Soldaten. Auch die Medien bekommen eine geballte Ladung Kritik ab: Hinterher lasse sich immer leicht behaupten, dass eine Entscheidung falsch gewesen sei. Letztlich, sagt Kompaniechef Krüger, wisse allein der Oberst, wie die Lage sich darstellte, die am Ende zu seinem Entschluss führte, die Angriffe anzufordern. Seine Leute jedenfalls stünden voll hinter der Entscheidung des Kommandeurs, angesichts all dessen, was zuvor geschehen sei.


Die Fallschirmjäger-Kompanie ist zum zweiten Mal in Kundus. Deshalb wissen die Soldaten am besten, wie sehr sich die Sicherheitslage dort verändert hat. Die Männer und Frauen sind viel in der von Taliban destabilisierten Region Chahar Darreh westlich von Kundus unterwegs. „Dort ist die Gefährdung im Vergleich zum letzten Jahr um 100 Prozent gestiegen“, sagt Stabsfeldwebel Heiko W. „Selbst als Soldaten können wir uns dort nicht mehr frei bewegen, wir müssen ständig mit dem Schlimmsten rechnen.“

Inzwischen zeigten sich die Aufständischen dort selbst am Tag bewaffnet inmitten der Zivilbevölkerung. Die sei zwar den Bundeswehrsoldaten gegenüber immer noch positiv eingestellt. Doch nun müssten die Familien damit rechnen, nachts von den Taliban bedroht zu werden, wenn sie sich am Tag allzu bereitwillig auf Gespräche mit den Deutschen eingelassen haben. Solche „Gesprächsaufklärung“ sei deshalb viel schwieriger geworden. Die 3. Kompanie fährt nur noch mit schwer gepanzerten Wagen in die Dörfer. „Wir müssen spätestens auf dem Rückweg damit rechnen, beschossen zu werden“, sagt Heiko W.

Seit dem 10. Juli ist die Fallschirmjäger-Kompanie wieder in Kundus. In dieser Zeit hatte sie 14 Mal Feindkontakt, davon zwei schwere Gefechte, die über Stunden andauerten. Manche Soldaten sitzen mit verbundenen Armen und Händen am Besprechungstisch, als sie dem Generalinspekteur von ihren Erlebnissen erzählen. Am 5. September, am Tag nach dem umstrittenen Luftangriff auf jene Furt im Kundus-Fluss, kamen sie gerade von einem Einsatz in Talokan, östlich von Kundus. Neben der Straße fuhr ein Auto heran und plötzlich explodierte es. Es war ein Selbstmordattentäter.

„Ich sah einen roten Blitz unter dem Auto, die Tür pellte sich auf“, erzählt ein Oberfeldwebel, der in dem am stärksten von der Detonation getroffenen Dingo saß. So ein Radpanzer wiegt mehr als acht Tonnen und die Wucht der Explosion schleuderte ihn einmal aufs Dach und dann wieder auf die Räder, bevor er einen Abhang hinunterstürzte. Fünf Soldaten und ein Übersetzer wurden verletzt. Eine Soldatin erlitt so schwere Verbrennungen, dass sie nach Deutschland ausgeflogen werden musste. Diese Soldaten halten jeden Tag ihren Kopf für Deutschland hin. Deshalb finden sie es unbegreiflich, dass sich ihr Oberkommandierender Georg Klein nun auch noch vor Gericht verantworten muss.

„Soldaten müssen in kürzester Zeit über Leben und Tod entscheiden – über ihr eigens Leben, das des Gegners und von Zivilisten“, sagt der Chef der Fallschirmjäger-Kompanie. „Da brauchen die Männer dort draußen einen klaren Kopf.“ Sein Spieß Heiko W. pflichtet bei: „Man hat sonst ständig im Hinterkopf: Was passiert denn, wenn ich eine Fehlentscheidung treffe.“ Solche Entscheidungen würden meist in Sekunden oder gar Millisekunden gefällt.

Eben dieses Problem spricht Schneiderhan am Tag darauf in Kabul an, als er Stanley McChrystal trifft, den Oberbefehlshaber der Isaf: Schränkt dessen neue Einsatzregel, wenn sie rigoros gehandhabt wird, nicht den Handlungsspielraum der Soldaten zu stark ein? Eröffnen sich so den Taliban nichtgefährliche Aktionsräume?

Die Männer der Kompanie kennen die Furt sehr gut, an der die Lastwagen strandeten. „Da bewegt sich nachts normalerweise keiner, die sind alle in ihren Gehöften“, sagt ein Zugführer. Gänzlich unverständlich ist für ihn, dass einige Opfer des Luftangriffs schon allein deshalb als Zivilisten bezeichnet werden, weil manche keine Waffen trugen. „Aufständische stehen nicht immer unter Waffen“, sagt er. „Manchmal sind es harmlos aussehende Bauerngruppen. Die haben dann im nächsten Moment plötzlich RPGs [also Panzerfäuste; die Redaktion] und Gewehre in der Hand.“ Der häufigste „Trick“ der Taliban sei es derzeit, sich als Zivilist auszugeben.

Oberst Klein tut der Zuspruch seiner Männer sichtlich gut. Einen „durchgeknallten Obristen“ hat Theaterregisseur Claus Peymann ihn in der Fernsehsendung von Anne Will genannt. Dabei ist Klein das Gegenteil eines Afghanistan-Rambos. Er ist eher vom Typ des peniblen Beamten als ein Berserker. Vergleichsweise schmal von Statur, ist er mit filigraner, unten randloser Brille auf der Nase. Klein hat Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Bundeswehr-Universität in Hamburg studiert und man merkt ihm an, dass er zu den Menschen gehört, die lieber länger nachdenken als aus dem Bauch heraus zu entscheiden.

Am Dienstag traf die Untersuchungskommission der Isaf in Kundus ein, am Montag schon der höchste Militär der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan. Klein steht das alles mit aufrechter Haltung durch. Allenfalls an einem verletzlichen Zug um die Lippen und dem zuweilen geröteten Gesicht lässt sich ablesen, wie sehr die ganze Sache ihn mitnimmt. Ihm sei dieser ganze „Personenkult“ jedenfalls zuwider, erzählt man sich im Lager.

In jenen zwei Tagen in Kundus hört man immer wieder, dass Klein den „beschissensten Job“ habe, den es bei der Bundeswehr derzeit gebe. Ständig stehen seine Männer unter Beschuss, ständig muss der Oberst Entscheidungen treffen, die das Leben seiner Männer und das von unbeteiligten Zivilisten retten oder gefährden können. Der Chef der 3. Kompanie drückt das vor Journalisten etwas feiner aus: „Der PRT-Posten in Kundus ist mit der Schwierigste, den die Bundeswehr hat“, sagt er. „Das muss anerkannt werden.“

Im Pressebüro von Oberstleutnant Carsten Spiering hängt ein Kalenderblatt des Jahres 2009. Mit rosa Marker sind hier die wichtigsten Feindberührungen eingetragen. Seit April verdichtet sich die rosa Farbe auffällig: Beschuss, Gefechte, Hinterhalte und Bombenanschläge. Dieses sich verdichtende Rosa bildet den Hintergrund, vor dem Klein in der Nacht zum 4. September jene Entscheidung traf, die beiden entführten Tanker im Fluss bombardieren zu lassen.

„Ich musste jederzeit damit rechnen, dass die wieder rollen“, sagt Klein. Und das wäre gefährlich gewesen. Seit geraumer Zeit lagen in Kundus Meldungen vor, wonach die Taliban Tanklastzüge stehlen wollten, um sie dann als fahrbare Bomben für Anschläge zu benutzen. Mitte August hatten die Islamisten schon einmal Tanklastzüge erbeutet. Ende August gab es in Kandahar tatsächlich solch einen Angriff. Dazu kamen Informationen, wonach ein konkreter Anschlag mit zwei Fahrzeugen gegen das Bundeswehrlager in Planung gewesen sei. Für den Oberst passten die gestohlenen Fahrzeuge also in das Bild einer sich verschärfenden Bedrohungslage.

In jener Nacht sind Kleins Alternativen begrenzt. Die „Quick Reaction Force“, die stets einsatzbereite Kampftruppe der Bundeswehr, ist in schwere Gefechte im Rahmen der Nato-Operation „Arragon“ weitab im Raum Archi verwickelt. Die anderen beiden Kompanien des Bundeswehrstandortes Kundus sind durch Routine-Aufgaben gebunden. Und es wäre sehr gefährlich, Bodentruppen in jene Gegend zu schicken, aus der zuvor massive Taliban-Konzentrationen gemeldet wurden. Das Gelände sei so „kanalisiert“, dass dort nur zwei Wege zur Furt führen, sagt Klein: Eine Route im Norden sei mit improvisierten Straßenbomben bestückt. Die zweite Straße führe durch eine Ortschaft. Dort besteht das Risiko, inmitten von Zivilisten in Kämpfe verwickelt zu werden.

Klein entscheidet sich also für Luftunterstützung.

Ein Bombenabwurf habe keinesfalls sofort festgestanden. Das sei auch der Grund, warum der B1-B-Bomber von einer F15 abgelöst worden sei – um über einen längeren Zeitraum Videobilder zu bekommen. Klein ist in jener Nacht im ständigen Kontakt mit den Piloten. Am Ende lässt er die Bomben einsetzen. „Ich habe diese Entscheidung allein getroffen“ sagt Klein, „weil ich eine Bedrohung für meine Leute, für die afghanischen Sicherheitskräfte und die afghanische Bevölkerung sah.“

Am nächsten Morgen sei ihm klar geworden, dass dieser Angriff für Aufruhr sorgen würde. „Ich musste in den vergangenen fünfeinhalb Monaten viele schwere Entscheidungen treffen“, sagt Klein heute. Diese eine jedoch hat in Deutschland eine bisher beispiellose Debatte ausgelöst.

Es ist die Aufgabe von Generalinspekteur Schneiderhan, beide Seiten zusammenzubringen. Jene Kluft schließen zu helfen, die sich aufgetan hat zwischen der politischen Klasse in Berlin, einer aufgeregten Öffentlichkeit in Deutschland und den Soldaten in Kundus, die empört sind über die Kritik an ihrem Oberst. Einheimische erzählen Schneiderhan, was auch viele Soldaten berichten: Die Afghanen in Kundus seien froh, dass die Bundeswehr nun endlich robuster vorgehe. Die Deutschen hätten viel Zeit verloren. Nun müssten sie „den Raum aggressiver besetzen“. Über die Hysterie in Deutschland könnten die Menschen hier nur den Kopf schütteln. Nun habe man deshalb Angst, dass die Bundeswehr vielleicht ihr Engagement zurückfahren oder gar beenden könnte.

Schneiderhan weiß, dass solch eine Sicht in Berlin schwer zu vermitteln ist. Andererseits hat der Vorfall auch dazu geführt, dass in Deutschland eine Diskussion entbrannte, die zum ersten Mal die harten Realitäten in Kundus zur Kenntnis nimmt. Deshalb sagt auch Klein: „Es ist wichtig, dass man das alles diskutiert und untersucht – auch für uns Soldaten“. Um Klarheit zu schaffen.

Am Montagabend steht die Sonne schon tief über dem Feldlager der Bundeswehr in Kundus. Jenseits von Mauer, Nato-Draht und des Sicherheitstreifens um das Lager treibt ein junger afghanischer Hirte seine Ziegen mit einer langen Rute zusammen und die Muezzine von Kundus rufen zum Abendgebet. Dann plötzlich ein Knall und ein kurzes Fauchen. Die Deutschen haben eine Drohne in den blau-rötlichen Himmel geschossen, die weitab vom Lager nach Taliban suchen soll. „Die halbe Stunde bis Stunde während der Abenddämmerung bereitet uns am meisten Probleme“, sagt einer der Soldaten, der die Drohne bedient. Es ist die Zeit, zu der die Taliban am liebsten operieren. Weil die Sehkraft der Augen schon nachlässt, es aber noch nicht so dunkel ist, dass die Deutschen die überlegene Technik ihrer Nachtsichtgeräte ausspielen könnten.

Am Tag darauf platzt dann mitten in ein Treffen mit Generalinspekteur Schneiderhan die Meldung, ein Zug mit etwa 25 Soldaten sei nahe Talokan Opfer eines Bombenanschlages geworden. Zum Glück gab es keine Verletzte, ein Dingo muss aber geborgen werden. Trotz Untersuchungskommission geht für Oberst Klein und seine Soldaten weiter, was in den letzten Wochen und Monaten gefährliche Normalität in Kundus ist.

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