13. August 2009

Die Ikone des Iran

von Antonia Rados

Der Tod von Neda Agha-Soltani schockte die Welt – und gab gleichzeitig den Demonstranten im Iran neue Kraft, gegen das Regime aufzubegehren. Wie aus einer 26-jährigen Studentin die Ikone des Aufstands wurde.

Seit Samstag, den 20.Juni 2009, 19:00 Uhr Teheraner Ortszeit hat die Islamische Republik Iran den Feind, den sie sich seit ihrem Bestehen alle Mühe gegeben hat zu schaffen: eine zierliche junge Frau in Jeans, die im Land der Mullahs zwar nicht erlaubt sind, aber geduldet werden so wie regimekritische Artikel oder Wahlen. Ihr obligates Kopftuch hatte Neda Agha-Soltani so fest gebunden, dass es nicht einmal im Moment ihres Todes verrutschte. Auf den wackligen Handy-Aufnahmen, die sie blutüberströmt auf der Kreuzung zwischen der Khosravi- und Salehi-Straße zeigen, ist, ganz züchtig, gerade der Haaransatz zu sehen. Ein Mann im weißen Hemd – wie sich später herausstellen wird der Arzt Arash Hejazi, ein Freund des brasilianischen Erfolgsschriftstellers Paulo Coelho – versucht verzweifelt, die sprudelnde Blutung ihrer Brustwunde zu stillen. Zu hören sind die entsetzten Schreie der Passanten. Rund einen Kilometer entfernt, auf dem Boulevard zwischen dem „Platz der Freiheit“ und dem „Platz der Revolution“ gehen die Demonstrationen weiter. Zwei Minuten nach dem Schuss ist Neda tot. Eine Stunde später gelangen die Aufnahmen per Internet zunächst nach Holland und von dort in die ganze Welt. Das Regime mag Zeitungen und Fernsehen zensieren. Die Bilder kann es nicht unterdrücken, schon gar nicht in einem Land mit 24 Millionen Internetnutzern – einem Drittel der Bevölkerung; damit ist Iran das am besten vernetzte Land in der Region.

Bereits am nächsten Morgen, als sich die Nachricht vom Tod der 26-jährigen Studentin, die so gerne reiste und iranische Popmusik hörte, auch in Teheran wie ein Lauffeuer verbreitet hat, ist klar: Der Tod Nedas ist eine Zäsur, ein irreparabler Schaden für die Machthaber. Fast drei Jahrzehnte seit der islamischen Revolution hatten Oppositionelle immer wieder vergeblich gegen das Regime protestiert. Eine nur kurze Filmaufnahme bewirkte nun mehr als alle Proteste. Die einzige islamische Republik der Welt gerierte sich nicht anders als jede Militärdiktatur: Sie zögerte nicht, auf ihre Bürger zu schießen. Sie brachte ihre eigenen Töchter um. An ihren Händen klebt Blut.

In der Stunde von Nedas Tod befand ich mich nicht weit von der Kreuzung entfernt. Doch von dem tödlichen Zwischenfall erfuhr ich erst nach meiner Rückkehr ins Hotel durch das Internet. Zuvor hatte ich an diesem stickig heißen Samstagabend – die Hitze hatte Neda veranlasst, wie Augenzeugen berichten, aus dem Auto auszusteigen, weil die Klimaanlage nicht funktionierte – zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten festgesteckt. Rechts von mir brannte es. Links prügelte eine Sondereinheit der Revolutionsgarden erbarmungslos auf Jugendliche ein, Frauen und Männer gleichermaßen. Der ätzende Geruch von Tränengas stieg auf. An der nächsten Straßenecke, halb versteckt in einer Seitengasse, warteten Horden der gefürchteten Bassidschi-Milizen auf Motorrädern, bereit, zuzuschlagen und, erstmals seit Beginn der Proteste, auch zu töten. Bassidschi, was übersetzt die „Mobilisierten“ bedeutet, sind so alt wie die Islamische Republik. Zu ihnen gehören Kinder von Kriegsveteranen aus dem iranisch-irakischen Krieg (1980 bis 1988) genauso wie Arbeitslose. Die Ehrgeizigsten kommen im Sommer heimlich in den Trainingsstätten der Revolutionsgarden zusammen, um für den Ernstfall zu üben, sprich eine amerikanische Invasion. In Friedenzeiten sind die Bassidschi mit Helmen und Schlagstöcken unterwegs, um gegen „innere Feinde“ wie Oppositionelle und Studenten vorzugehen.

An jenem Samstag, an dem die Philosophiestudentin, deren Name passenderweise „Stimme“ oder „Ruf“ bedeutet, sterben musste, blieb kein einziger Bassidschi untätig. Anders als bei den bisherigen Protesten gegen die vermeintlichen Wahlmanipulationen wurden sie bewaffnet und wie Revolutionsgarden und Geheimdienstler nicht nur in den Straßen, sondern auch auf den Flachdächern der Städte positioniert. Und obwohl die Bassidschi keine Uniformen tragen, waren sie leicht zu erkennen, wie sie hoch über der Menge standen und ihre Waffen schussbereit gegen den Himmel streckten.

Gegen 19:00 Uhr peitschten erste Schüsse durch die Straßenschluchten. Nicht nur an der Kreuzung, an der Neda ahnungslos mit ihren Bekannten stand. An vielen Orten, in Hauseingängen, in Sackgassen, zwischen parkenden Autos starben an jenem Abend Menschen – nur, dass ihnen kein Arzt beistand und niemand mit dem Handy ihren Tod filmte. Ihre Mörder handelten nach dem kaltblütigen Prinzip des Großen Vorsitzenden Mao Zedong: „Töte einen und du wirst hundert einschüchtern.“
Später verkündete die Regierung, nicht die Sicherheitskräfte, sondern die Demonstranten hätten geschossen. Nachdem diese verwegene Verschwörungstheorie in verschiedenen Versionen verbreitet wurde, hieß es, man hätte auch Nedas Mörder gefunden: Der BBC-Reporter John Leyne, der inzwischen des Landes verwiesen worden war, sei für den Tod der Studentin verantwortlich. Nedas Tod habe als Höhepunkt einer anti-iranischen Reportage dienen sollen.

Unterdessen beobachtete die Korrespondentin der französischen Tageszeitung Le Figaro, dass an Nedas Todestag und an den darauf folgenden Tagen zahlreiche Tote und Schwerverletzte in Teherans Krankenhäuser eingeliefert wurden. Ärzte wurden gezwungen, die Namen der Verletzten zu registrieren, die dann noch auf dem Krankenbett verhaftet wurden. Wer sich diesen Anweisungen widersetzte, wurde bedroht oder ebenfalls vorübergehend in Haft genommen. Das Regime ließ die Todesurkunden der Verstorbenen fälschen und Obduktionen verbieten, um zu vertuschen, dass viele mit Schüssen im Hinterkopf eingeliefert und offensichtlich gezielt getötet, ja geradezu exekutiert worden waren. Leichen wurden in das Militärkrankenhaus überführt, wo nach der operativen Entnahme von Organen die sterblichen Überreste verbrannt wurden. Laut Figaro und anderen Quellen sind bis zu hundert Menschen bei den Protesten umgekommen und nicht etwa „nur“ siebzehn, wie die offiziellen Stellen verlautbaren ließen. Tausende Verhaftete sitzen im berüchtigten Evin-Gefängnis, in dem die Anzahl der Hinrichtungen von angeblichen „Drogenhändlern“ während der vergangenen Tage auffällig stieg.

Gleichzeitig begannen Regierungsstellen eine wilde Propagandaschlacht. Nach der strikten Zensur der nationalen Medien richtete sich der Zorn gegen die ausländischen Reporter. Ursprünglich waren sie großzügig mit Visa versorgt worden, um über die Präsidentschaftswahl am 12.Juni zu berichten. Jetzt verbot man ihnen, sich den Protesten zu nähern, geschweige denn darüber zu berichten. Pech für alle, die sich daran hielten und von da an aus sicheren Hotelzimmern die Erzählungen ihrer Übersetzer verbreiteten, bis sie wie alle unfolgsamen Berichterstatter das Land verlassen mussten. Schließlich gingen die Unterstützer Mahmud Ahmadinedschads auch über Twitter – dem Kommunikationsmedium der Aufständischen – zur Offensive über. Plötzlich meldete sich kaum ein Regimegegner mehr zu Wort. Stattdessen wurden Kurznachrichten über den „Wahlsieg“ Ahmadinedschads und Lobeshymnen auf den Präsidenten im Minutentakt gesendet. Gleichzeitig hat der iranische Geheimdienst begonnen, die Postings der Regimegegner auf Facebook und Youtube auszuwerten. Nacht für Nacht werden seither Menschen verhaftet, die auf den Videoclips identifiziert werden konnten. Die Filtersoftware zur Kontrolle des Internets haben übrigens die Firmen Siemens und Nokia geliefert. Es sei schließlich darum gegangen, beteuern Firmensprecher, „Daten zu kontrollieren, die Terrorismus, Pädophilie, Drogenhandel und andere kriminelle Tätigkeiten betreffen“.

Das Bild der sterbenden Neda aber kann das Regime nicht aus dem Gedächtnis der Millionen Iraner – und der Millionen Menschen weltweit – verbannen. Eine „Tochter des Iran“ nannte sie Reza Pahlavi, exilierter Sohn des ehemaligen Schahs (Siehe auch das Interview auf Seite 24). Sie wurde zur Ikone der Opposition. Gerade weil sie keine bekannte Oppositionelle war, sondern nur eine von Tausenden Frauen im Iran, die die Unterdrückung der Frauen durch das islamische Regime nicht länger ertragen wollen. Deren Eltern nicht in den Nord-Teheraner Luxusvierteln der gebildeten Elite leben, sondern in einem der zahlreichen gigantischen Wohnblocks der Millionenmetropole. So wie auch Nedas Eltern und beiden Brüder, die in Teheran-Pars, einem Mittelklasse-Viertel im Osten der Stadt wohnten. Die Familie, der Vater ist Beamter, die Mutter Hausfrau, wird als gläubig, aber nicht überaus fromm beschrieben. Als ob der gewaltsame Tod ihres Kindes nicht schlimm genug gewesen wäre, durften sie ihrer Tochter nicht einmal eine angemessene Trauerfeier ausrichten. Es gab weder eine Predigt oder Ansprache noch hielt ein Imam einen Gottesdienst ab. Die Behörden hatten den Leichnam Nedas nur unter der Bedingung freigegeben, dass er noch am selben Tag und ohne jegliche öffentliche Feierlichkeit auf dem Friedhof Behescht-Zahra beigesetzt würde.

Aber die vom Regime ersehnte Ruhe hat sich damit nicht eingestellt. Mahmud Ahmadinedschad mag von seinem Schutzherrn, dem geistlichen Führer Ali Chamenei, als Wahlsieger bestätigt worden sein. Aber bedeutende Religionsgelehrte in der heiligen Stadt Qom haben dem Urteil der amtlich höchsten Autorität im Iran widersprochen. Und was immer auch die Teheraner Propagandamaschine aushecken wird – Spionagevorwürfe, Schauprozesse –, dem Regime wurde ausgerechnet mit dem Tod einer jungen Frau ein Kainsmal eingebrannt.

Neda ist unauslöschlich verbunden mit der Geschichte dieser Republik, die seit über dreißig Jahren erfolgreich um ihr Überleben kämpft. Seit dem tragischen Tod der Studentin will niemand mehr dieser Republik ein leichtes Leben prophezeien, geschweige denn ein langes.

Quelle: Cicero

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